EDGAR LECIEJEWSKI
A SCENE IN A LIBARY
Buchvorstellung und Ausstellung
20. Oktober–22. Oktober 2016
DR. CHRISTIANE STAHL IM GESPRÄCH MIT DEM KÜNSTLER: 22. Oktober 2016, 15 Uhr
Ganz augenscheinlich ist der Künstler Edgar Leciejewski kein Freund des e-Books. „A Scene in a Library“ nennt er seine neueste Arbeit, die der Idee einer traditionellen und dabei ganz persönlichen Büchersammlung verpflichtet ist. Zugleich ist es für den neugierigen Betrachter eine Einladung, die Regalreihen dieser Bibliothek mit dem Auge genau zu durchwandern. Die äußeren Bildmaße von 260 mal 134 Zentimetern sind gerade so gewählt, dass auch kleine Details zu voller Wirkung gelangen. Auf den vier Ebenen findet sich vieles zu gleicher Zeit, und auch bemerkenswert Unterschiedliches. Ganz oben springen alte Jahrgänge der Zeitschrift „Die Zukunft“ ins Auge. Dieses um 1900 viel gelesene Blatt war eine bunte Mischung aus leichten und gewichtigen Inhalten. Es scheint, als wolle Leciejewski mit seiner Szene einer Bibliothek diese Idee noch einmal aufgreifen und mit seinen eigenen künstlerischen Mitteln zu einem Bild verdichten.
Moderne Ausgaben verschiedener Philosophen und Theoretiker können wir sehen, manche von ihnen wurden offenbar gründlich gelesen, eingelegte Zettel führen zu den wichtigsten Stellen. Dahinter werden vergilbte Romane sichtbar, unter ihnen Balzac, Flaubert und Zola; die großen Schriftsteller des französischen Realismus. Schließlich aber auch Autoren der klassischen Moderne: Wir sehen Ausgaben von Pessoa, Gorki oder Bataille. Doch zeigt Leciejewski mehr: Schwere, in dickes Packpapier eingeschlagene Pakete, und ganze Stapel von Fotokopien werden uns im Unklaren lassen, was hier aufbewahrt wird. Kaum anders wird es uns mit jenen Bänden mit unbeschrifteten Rücken gehen – ob es Fotoalben oder Notizbücher sind? Erst recht aber gibt die Mitte der untersten Bücherreihe Rätsel auf: Hier wurde nachträglich eingegriffen. Eine Wolke gleich, verschwimmt die Oberfläche der Fotografie in absichtsvoll gesetzter Unschärfe. Das gesamte Tableau scheint auf einem eigentümlichen visuellen Rätsel gegründet.
Geschickt provoziert Leciejewski mit seinem Tableau mehr Fragen, als er Antworten zu geben bereit ist. Und gewiss treibt eine Vielzahl eingestreuter Kleinigkeiten dieses Spiel nur weiter an: Gartenzwerge und Konservengläser mit merkwürdigem Inhalt, vertrocknete Früchte und Bilder sind, kleinen Splittern gleich, zwischen die Buchreihen gestreut. Können wir annehmen, dass all dies aus dem Besitz des Fotografen stammt? Und was könnten sie alle miteinander zu tun haben? Es lässt sich vermuten: Vor unseren Augen sichtbar wird eine sorgfältig arrangierte Autobiografie. Uns wird Einblick gewährt in das Denken und Arbeiten eines Künstlers. Durch Dinge sprechend, tritt uns das bibliophile Stillleben als ein Selbstporträt gegenüber.
Es lohnt, ganz genau hinzusehen. Im Zentrum dieses Bildes, direkt links neben dem kleinen Hundebild, findet sich ein unscheinbarer Band, beschriftet mit der Jahreszahl 1839 – eine Anspielung für die Kenner der Mediengeschichte. Dies ist das Jahr, in dem zum ersten Mal öffentlich von der Fotografie die Rede war. Als wolle sich der Fotograf Leciejewski wie auf einen Dreh- und Angelpunkt seines eigenen Schaffens berufen, lässt sich von der bedeutungsvoll beschrifteten Bildmitte her das gesamte Tableau erkunden. Ältere und neuere Klassiker der Fotoliteratur (László Moholy-Nagy, Rosalind Krauss, Douglas Crimp…) kommen in den Blick und nicht zuletzt eine Vielzahl noch unverpackter oder bereits für den Transport eingeschlagener Bilder.
Die Aneignung der Fotogeschichte und die eigene fotografische Produktion, so scheint diese „Scene in a Library“ nahelegen zu wollen, gehen hier Hand in Hand. Und bereits der Titel dieses Bildes birgt eine weitere Anspielung: Leciejewski leiht ihn sich bei William Henry Fox Talbot, der in seinem berühmten, zwischen 1844 und 1846 erschienenen „The Pencil of Nature“ eine seiner Bildtafeln gerade so nennt und genau wie Leciejewski, wenn auch nur in zwei Reihen übereinander, die Ansicht eines Bücherregals zum Thema wählte. Den eingangs erwähnten neugierigen Blick, gerade ihn scheinen beide Fotografen im Sinn gehabt zu haben: Je länger wir uns in diesem Bild aufhalten, umso mehr finden wir uns inmitten einer Entzifferungsarbeit wieder. Wir können versuchen, die Vielzahl der hier sichtbaren Dinge miteinander zu verbinden und auf diese Weise an der Oberfläche ein ebenso beziehungs- wie anspielungsreiches Netz von Bedeutungen zu knüpfen.
Neben dieses Tableau stellt Edgar Leciejewski eine Buchfassung, die die titelgebende Szene in viele einzelne Schauplätze aufteilt. Von einer Doppelseite zur nächsten kann unser Blick über Ausschnitte schweifen, die das Bild – einer Enzyklopädie aus lauter Dingen gleich – aufblättern. Und erst recht hier, in der buchgewordenen „Scene in a Library“ wird deutlich, wie groß der autobiografische Eintrag ist: Der Fotograf öffnet seine Notiz- und Skizzenbücher, blendet sie über die präsentierten Bildausschnitte und gibt auf diese Weise zu erkennen, wie reizvoll, ja verführerisch jene Indiskretion ist, die sich mit dem Blick auf eine fremde Bücherwand verbindet.
Prof. Dr. Steffen Siegel